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28 March 2019

What might disrupt the presidential election in Ukraine?

Ukraine verstehen
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Read English version: New Eastern Europe

Weniger als eine Woche vor der ersten Wahl­runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len ist der Ausgang voll­kom­men offen. Gleich­zei­tig ist das Ringen um den zweiten Platz Schlüs­sel­frage dieses ersten Wahl­gan­ges. Brisant wird sein, wie sich Tymo­schenko oder Poro­schenko im Falle eine Wahl­nie­der­lage ver­hal­ten und ob sie die Wahl und dessen Legi­ti­mi­tät in Frage stellen. Von Ruslan Kermach

Ruslan Kermach frei­be­ruf­li­cher poli­ti­scher Analyst und asso­zi­ier­ter Experte bei der Ilko Kuche­riv Demo­cra­tic Initia­ti­ves Foun­da­tion (DIF).

Weniger als eine Woche vor der ersten Wahl­runde der ukrai­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wah­len schei­nen sich die Prä­fe­ren­zen der Wähler und Wäh­le­rin­nen zu fes­ti­gen. Obwohl Umfra­gen in der Ukraine gene­rell mit Skepsis zu betrach­ten sind, lassen sich einige klare Trends erken­nen. So zeigen jüngste Mei­nungs­um­fra­gen, wie die gemein­same Umfrage der Rating-Group, des Kiev Inter­na­tio­nal Insti­tute of Socio­logy (KIIS) und des Razum­kov Centers eine deut­li­che Führung von Wolo­dy­myr Selen­skyj, dem Showman und Come­dian. Selen­skyj wird gefolgt von Petro Poro­schenko, dem Amts­in­ha­ber, und Julija Tymo­schenko, der ehe­ma­li­gen Pre­mier­mi­nis­te­rin.


Die Grafik oben zeigt die Werte der­je­ni­gen Wähler*innen, die sich bereits ent­schei­den haben, wen sie in der ersten Runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len wählen werden. Laut Umfrage sind immer noch ein Viertel der Wähler unent­schlos­sen. Die sta­tis­ti­sche Feh­ler­quote liegt bei 0,8 Prozent.

Die nächs­ten Ver­fol­ger der drei füh­ren­den Kan­di­da­ten sind Anatoly Hry­zenko (9,7 Prozent) und Jurij Boiko (8,4 Prozent). Sie haben einen spür­ba­ren Rück­stand, den sie wahr­schein­lich nicht in den wenigen ver­blei­ben­den Tagen vor den Prä­si­dent­schafts­wah­len auf­ho­len können.

Neben der Rating-Group-Umfrage sah auch das KIIS, das seine letzte eigene Umfrage am 25.03. ver­öf­fent­lichte, eine deut­li­che Führung von Selen­skyj. Das KIIS sah den Come­dian sogar bei 32 Prozent. Obwohl einige Exper­ten noch Zweifel an den hohen Werten haben, geben die jüngs­ten sozio­lo­gi­schen Mes­sun­gen einige vor­sich­tige Gründe zu der Annahme, dass es Selen­skyj gelin­gen wird, in die zweite Runde ein­zu­zie­hen. Min­des­tens 76 Prozent seiner Anhän­ger sagen, dass sie „defi­ni­tiv“ in die Wahl­lo­kale kommen und abstim­men werden, und weitere 12 Prozent gaben an, dies höchst­wahr­schein­lich tun zu wollen. Kurzum, es ist mit einem Sieg Selen­skyjs in der ersten Wahl­runde zu rechnen.

Die wich­ti­gere Frage ist, wer neben ihm den zweiten Platz belegt und damit in die Stich­wahl ein­zieht. Laut den Umfra­gen ist der Abstand zwi­schen Julija Tymo­schenko und Petro Poro­schenko extrem knapp. Die oben gezeigte Umfrage sah die Umfra­ge­werte der beiden Kon­tra­hen­ten bei 16,6 bzw. 16,4 Prozent.

Kampf um Platz zwei birgt poli­ti­sches Risiko

Doch die man­gelnde Klar­heit über den zweiten Kan­di­da­ten, der in die zweite Runde ein­zieht, birgt das Risiko eines poli­ti­schen Kon­flikts kurz nach der ersten Runde der Prä­si­dent­schafts­wahl.

Sowohl Poro­schenko als auch Tymo­schenko könnten im Falle eines knappen Wahl­aus­gan­ges den Ausgang und den gesam­ten Wahl­pro­zess in Frage stellen. Im zurück­lie­gen­den Wahl­kampf beschul­dig­ten sich die Kan­di­da­ten und Behör­den gegen­sei­tig – meist ohne Beweise – der Nutzung schmut­zi­ger Wahl­kampf­me­tho­den, der Mani­pu­la­tion und des Stim­men­kau­fes. Das, zusam­men mit der Tat­sa­che, dass bei den Wahlen auf Video­über­wa­chung in den Wahl­lo­ka­len ver­zich­tet wird, könnte Gründe liefern, den Gegner des unfai­ren Spiels zu beschul­di­gen und die Ergeb­nisse der Abstim­mung in Frage zu stellen. Die Erfah­rung der zweiten Runde der Prä­si­dent­schafts­wah­len zwi­schen Janu­ko­wytsch und Juscht­schenko aus dem Jahr 2004 ist vielen noch in Erin­ne­rung.

Ein Kri­sen­sze­na­rio


Sollte einer der dritt­plat­zier­ten Kan­di­da­ten die Wahl als Ganzes anzwei­feln, droht eine poli­ti­sche Krise mit weit­rei­chen­den Folgen. Denkbar wäre, dass der bzw. die Unter­le­gene unmit­tel­bar zu öffent­li­chen Pro­tes­ten aufruft. Das wie­derum könnte im schlimms­ten Fall zur Gewalt führen und die ord­nungs­ge­mäße Durch­füh­rung des zweiten Wahl­gangs und damit den gesam­ten Wahl­pro­zess gefähr­den.

Im Falle einer Nie­der­lage könnte sich Julija Tymo­schenko schnell als Opfer einer poli­ti­schen Intrige insze­nie­ren. Als Oppo­si­ti­ons­kan­di­da­tin und pro­mi­nente Kri­ti­ke­rin der aktu­el­len Regie­rung könnte die ehe­ma­lige Pre­mier­mi­nis­te­rin Anschul­di­gun­gen gegen Poro­schenko erheben, den knappen Wahl­sieg durch Mani­pu­la­tion errun­gen zu haben. Dabei kann sie auf einen loyalen Par­tei­ap­pa­rat zurück­grei­fen, der in der Lage wäre, Men­schen zu Pro­tes­ten zu mobi­li­sie­ren und in die Haupt­stadt zu bringen.

Zwei­tens verfügt Tymo­schenko nicht über die admi­nis­tra­ti­ven Res­sour­cen, auf die der amtie­rende Prä­si­dent Poro­schenko zurück­grei­fen kann (durch die Ernen­nung von Leitern der Regio­nal­ver­wal­tun­gen, die Nutzung von Haus­halts­mit­teln etc.), was ihr ein zusätz­li­ches Argu­ment für Kritik gibt und ihre Posi­tion in den Augen der Öffent­lich­keit in der Ukraine ver­letz­li­cher macht.

Zudem ist das öffent­li­che Miss­trauen gegen­über Tymo­schenko heute deut­lich gerin­ger als gegen­über Prä­si­dent Poro­schenko. Das der­zei­tige Staats­ober­haupt führt in Umfra­gen das öffent­li­che Miss­trauen in der Ukraine an: 69 Prozent Bürger ver­trauen ihm nicht. Unter denen, die beab­sich­ti­gen, bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len ihre Stimme abzu­ge­ben, wird fast jeder zweite Befragte (49,6 Prozent) unter keinen Umstän­den für ihn stimmen. Tymo­schen­kos Anti-Rating liegt bei ledig­lich knapp 30 Prozent. Hinzu kommt der welt­weite Nega­tiv­re­kord für Ver­trauen der Men­schen in die Regie­rung: Hier führt die Ukraine laut einem Gallup Poll mit neun Prozent (im Ver­gleich zu 48 Prozent in post­so­wje­ti­schen Staaten). Die gleiche Umfrage zeigt, dass nur zwölf Prozent der erwach­se­nen Wähler Ver­trauen in die Wahlen haben.

Des Wei­te­ren sind die bevor­ste­hen­den Wahlen für ziem­lich viele Wähler und Wäh­le­rin­nen (etwa jeden Zweiten) eine Art Refe­ren­dum über dem amtie­ren­den Prä­si­den­ten Poro­schenko. Vieles deutet darauf hin, dass dieses eher negativ aus­fällt. Daher sollte die Kan­di­da­tin Tymo­schenko im Falle einer Wahl­nie­der­lage keine grö­ße­ren Pro­bleme bei der Mobi­li­sie­rung und Ver­ei­ni­gung der Ukrai­ner haben, die mit der Regie­rung und Prä­si­dent Poro­schenko unzu­frie­den sind, ein­schließ­lich der Führer anderer oppo­si­tio­nel­ler poli­ti­scher Kräfte und Ver­tre­ter von Finanz- und Indus­trie­kon­zer­nen, die bereit wären, einen lang­fris­ti­gen poli­ti­schen Protest zu unter­stüt­zen.

Im Falle einer Wahl­nie­der­lage Poro­schen­kos in der ersten Runde kann eben­falls nicht aus­ge­schlos­sen werden, dass er auf außer­ge­wöhn­li­che Mittel zurück­greift, um den Wahl­pro­zess anzu­zwei­feln bzw. zu beein­flus­sen und somit seinen Macht­ver­lust zu ver­mei­den. Das wahr­schein­lichste Mittel für Poro­schenko wäre ein juris­ti­scher Versuch, das Wahl­er­geb­nis anzu­zwei­feln. Die Justiz ist trotz Reform­be­mü­hun­gen noch poli­tisch beein­flusst und es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass es zu einer Annul­lie­rung der Ergeb­nisse kommt. Eben­falls denkbar ist, dass Russ­land eine Ein­mi­schung in die Wahl vor­ge­wor­fen wird. Dies könnte den Behör­den bzw. Poro­schenko als Vorwand dienen, den Ausgang der Wahlen anzu­zwei­feln oder gar zu annul­lie­ren.

Obwohl ein solches Sze­na­rio nicht absolut aus­ge­schlos­sen werden kann, ist es unwahr­schein­lich, dass die ukrai­ni­sche Gesell­schaft als Ganzes bereit wäre, es zu akzep­tie­ren. Im Gegen­teil, solche Maß­nah­men der Behör­den könnten ange­sichts des gerin­gen Ver­trau­ens der Öffent­lich­keit in die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen und den Prä­si­den­ten eine noch akutere poli­ti­sche Krise aus­lö­sen als die Nie­der­lage Tymo­schen­kos.

Der fried­li­che Ausgang der Prä­si­dent­schafts­wah­len wird also weniger von der Rei­hen­folge der Wahl­sie­ger im ersten Wahl­gang, sondern viel­mehr von der Ent­fer­nung der zweit- und dritt­plat­zier­ten Kan­di­da­ten abhän­gen. Je gerin­ger der Abstand zwi­schen Poro­schenko und Tymo­schenko, desto höher ist das Risiko einer poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung, die im schlimms­ten Fall sogar Aus­wir­kun­gen auf die zweite Wahl­runde am 21. April haben könnte.