Ergebnisse des Normandie-Gipfels: die Sicht aus Kyiv
Vor dem Aufeinandertreffen der Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin waren die Sorgen in Kyiv groß. Viele Kritiker in der Ukraine befürchteten, dass Selenskyj zur Lösung des Konflikts ukrainische Interessen preisgeben könnte. Wie bewerten Experten in der Ukraine den Ausgang des Normandie-Gipfels?
Wir haben Journalisten und Experten aus der Ukraine zum Ausgang des Normandie-Gipfels befragt:
Anastasija Stanko, Journalist, Hromadske
„Ich werde ehrlich mit Euch sein – für mich ist es nicht genug, ich will mehr Siege“, sagte Wolodmyr Selenskyj auf der gemeinsamen Pressekonferenz in Paris nach den achtstündigen Gesprächen mit Merkel, Macron und Putin. Es scheint so, als ob der ukrainische Präsident verstanden hat, wie schwierig es ist mit dem russischen Präsidenten umzugehen.
Im Anschluss an die offizielle Pressekonferenz des Normandie-Gipfels sprach Selenskyj mit ukrainischen Journalisten in der Nähe seines Hotels. Er betonte, dass es ein schwieriger Dialog mit „nicht einfachen“ Menschen sei. Die schwierigste Frage – und das war vorhersehbar -, ist und bleibt die Sequenzierung. Also, was kommt zuerst, die Kontrolle über die Grenze durch die ukrainische Regierung und danach Kommunalwahlen im Donbas oder umgekehrt. Das Minsker Abkommen besagt, dass zuerst Wahlen stattfinden sollten, und erst dann die Ukraine die Kontrolle über die Grenze zu Russland erhalten soll.
Daran erinnerte Putin bei der offiziellen Pressekonferenz. Wie kann Selenskyj diese Vertragsklausel ändern? Er will in Minsk eine weitere Gruppe nur für diese Frage bilden, um dort nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Rückgabe der ukrainisch-russische Grenze funktionieren soll. Putin lehnt das bisher zwar prinzipiell ab, aber nach langer Diskussion stimmte er zu, zumindest darüber nachzudenken.
Ich glaube, dass der ukrainische Präsident den Konflikt tatsächlich lösen will. Er ist sehr ernst und ehrlich dabei. Er versteht, wie schwierig es ist, aber er will nicht aufgeben, was für ihn einfacher wäre. Die Protestierenden vor seinem Präsidentenbüro würden sich über den Abbruch der Verhandlungen wahrscheinlich freuen. Ich finde es seltsam, aber die Demonstranten in der Bankova waren, wie Putin, bereits nach dem Normandie-Gipfel mit den bescheidenen Verhandlungsergebnissen zufrieden.
Christopher Miller, unabhängiger Journalist
Wie erwartet, kam es zu keinem größeren Durchbruch und keinen Überraschungen. Das von den vier Staats- und Regierungschefs – Putin, Selenskyj, Merkel und Macron – unterzeichnete Kommuniqué weicht im Wesentlichen nicht von dem ab, was die Diplomaten vor dem Gipfel unterzeichnet hatten. Das soll aber nicht heißen, dass der Normandie-Gipfel ein Misserfolg war. Die schiere Tatsache, dass ein Treffen im Normandie-Format stattgefunden hat, ist ein kleines Zeichen des Fortschritts, und Putin selbst sagte sogar, er glaube, dass es ein Zeichen der Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen sei. Und die wenigen Dinge, die vereinbart wurden, sind wichtig. Dazu gehören eine Wiederverpflichtung zum Waffenstillstand entlang der Kontaktlinie, ein allumfassender Gefangenenaustausch vor Ende des Jahres und drei neue Entflechtungszonen. Eines war jedoch völlig klar: Die Positionen Kyivs und Moskaus liegen weit auseinander und ein Ende des Krieges ist derzeit nicht in Sicht.
Selenskyj trat auf wie ein ernsthafter Staatsmann. Er sprach, wie ich finde, gut und deutlich. Er gab nichts her und betonte, dass der Donbas und die Krim der Ukraine gehören. Für die Opposition in Kyiv wird es nicht viel zu beklagen geben.
Oleksiy Haran, Forschungsdirektor der Democratic Initiatives Foundation
Einen „Verrat“ ukrainischer Positionen gab es bisher nicht. Auch dank der Proteste in der Ukraine unter dem Motto „Nein der Kapitulation“ hätte sich dies Selenskyj auch nicht leisten können. Wie erwartet wurden beim Normandie-Gipfel eher unpolitische, technische Vereinbarungen getroffen: Entflechtungen, ein ständiger Waffenstillstand, Austausch von Gefangenen und Zugang zu ihnen durch das Internationale Rote Kreuz, Eröffnung neuer Kontrollpunkte. Zu unterstreichen ist, dass der Einsatz der OSZE-Special Monitoring Mission für den gesamten Donbas (einschließlich der nicht-kontrollierten Gebiete) vereinbart wurde, und nicht nur im Tageslicht, sondern rund um die Uhr (wie von Frau Merkel betont). Man weiß nicht, wie es in der Wirklichkeit ablaufen wird. Seit dem September 2014 wurden das alles schon mehrfach besprochen, jedoch nie umgesetzt. Drei ukrainische Kämpfer starben alleine während dieses Gipfels.
Bei den zentralen politischen Fragen zu den Wahlen im Donbas und der Grenzkontrolle, wo die größten Gefahren für die Ukraine bestehen bleiben, gab es keine Einigung. Putin will die Kontrolle über die Grenze nicht vor den Wahlen abgeben, wie von Kyjiw gefordert. Ich finde es bemerkenswert, dass Bundeskanzlerin Merkel über die Möglichkeit einer Änderung der Minsker Vereinbarungen gesprochen hat. Sie scheint also bereit, den Forderungen Kyjiws nachkommen zu wollen. Wichtig ist aber zu betonen, dass Wahlen auf den immer noch besetzten Gebieten nicht schnell abgehalten werden können. Und was würde ein Gesetz über einen „dauerhaften Sonderstatus“ genau bedeuten? Sollen die besetzten Gebiete tatsächlich dauerhaft mehr Rechte als andere Regionen der Ukraine bekommen? Die Gefahr eines „Verrats“ ukrainischen Interessen besteht also nach wie vor.
Brian Milakovsky, arbeitet bei einer humanitären NGO im Gebiet Luhansk
Die bescheidene Zusage beim Normandie-Gipfel, neue Grenzübergänge entlang der Frontlinie zu eröffnen, könnte den Weg in Richtung wirtschaftliche Liberalisierung ebnen, dem Bereich mit dem größten Fortschrittspotenzial in naher Zukunft.
Im Gebiet Luhansk ist nur der Fußgängerübergang im äußersten Osten Stanyzja Luhanska geöffnet, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass nun ein Fahrzeugübergang bei Solote im Westen der Region vorgeschlagen wird. Dies könnte die Isolierung der von Russland kontrollierten Hälfte des Gebiets grundlegend verringern und zu einer Belebung der Handelsströme führen.
Anfang Dezember hob Präsident Selenskyj die Mengenbeschränkungen für ukrainische Waren auf, die in russisch kontrollierte Gebiete gelangen. Zusammen mit einer neuen Fahrzeugüberquerung könnte dies ein Segen für Landwirte, Lebensmittelverarbeiter und Konsumgüterunternehmen im Gebiet Luhansk sein, die ihre traditionellen Märkte im industriellen Süden verloren haben. Viele haben begonnen, ihre Endmärkte zu diversifizieren, aber der wiederhergestellte Zugang zu Luhansk wird immer noch ein wirtschaftlicher Segen für viele vor Ort sein.
Wenn diese Liberalisierung gelingt, könnte sie die Voraussetzungen für weitere Verhandlungen im Minsk-Prozess bzw. Normandie-Format über die „Entnationalisierung“ von Gruben, Minen und Fabriken in von Russland kontrollierten Gebieten schaffen und sie mittel- bis langfristig wieder an ukrainische Besitzer zurückgeben, sie unter ukrainische Gerichtsbarkeit stellen und ihnen so Zugang zum Weltmarkt zurückgeben.
Andreas Umland, Senior Research Fellow, Institute for Euro-Atlantic Cooperation
Die vielleicht entscheidende Neuerung im ukrainischen Ansatz zur Konfliktlösung beim Normandie-Gipfel in Paris war, dass Selenskyj öffentlich die volle ukrainische Kontrolle über die russisch-ukrainische Grenze als Voraussetzung für die Umsetzung der inzwischen akzeptierten Steinmeier-Formel identifiziert hat. Die alte Bestimmung des Minsk-II-Abkommens, die Grenze erst nach den Regional- und Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten zu schließen, war stets unstimmig. Eine Umsetzung dieser Regelung hätte bedeutet, dass de facto zwei miteinander konkurrierende Staaten die besetzten Gebiete des Donbas kontrollieren würden, was die Durchführung, Fairness, Sicherheit, Offenheit und Freiheit dortiger Wahlen in Frage stellen würde. Eine Neuformulierung der Bedingungen für die Durchführung von Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten könnte somit Ziel und Inhalt eines Minsk III-Abkommens sein. Diese Vereinbarung könnte einen Plan darstellen, wie die Steinmeier-Formel in der Praxis umgesetzt werden kann. Ein neues umfassendes Abkommen wäre auch sinnvoll, da eine ganze Reihe der Minsk I- und II-Artikel von 2014 und 2015 inzwischen offensichtlich obsolet geworden sind. Schließlich muss eine Verfassungsänderung in der Ukraine, die über die (unabhängig davon laufende) ukrainische Dezentralisierungsreform hinausgeht, als eine Voraussetzung für die Umsetzung der Steinmeier-Formel ausgeschlossen werden, weil die innenpolitischen Widerstände zu groß wären.
Hanna Hopko, ehemalige Rada-Abgeordnete
Verrat oder Sieg? Viele Journalisten in der Ukraine haben das Thema durch eine solche Frage vereinfacht. Für mich ist der Normandie-Gipfel ein wichtiges Ereignis in einem schwierigen und langen Verhandlungsmarathon, mit dem ein strategisches Ziel der Ukraine erreicht werden soll – die Wiederherstellung unserer territorialen Souveränität und Integrität auf politisch-diplomatischem Wege – die Rückkehr des Donbas und der Krim. Wir hoffen auch, dass ukrainische Bürger nach vielen Jahren der Inhaftierung freigelassen werden. Für die Ukraine ist das menschliche Leben eine Schlüsselpriorität und ein echter Wert.
Es ist sehr symbolisch, dass die UN-Generalversammlung am selben Tag einen Resolutionsentwurf angenommen hat, in dem die Russische Föderation als Besatzungsmacht aufgefordert wird, ihre Streitkräfte von der Krim abzuziehen und ihre vorübergehende Besetzung des ukrainischen Territoriums zu beenden.
In der Ukraine bleiben die Zweifel groß. Russland hat die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen mehrmals behindert. Bisher gab es keinen dauerhaften Waffenstillstand, die Kreml-Kräfte haben im Donbas systematisch ukrainische Bürger enteignet, pro-ukrainische Menschen verhaftet und gefoltert. Zudem verteilt Russland weiterhin fleißig russische Pässe. Deshalb ist es wichtig, dass die EU Sanktionen gegen den Aggressor-Staat als wirksames Instrument weitergeführt werden.
Die Ukraine hat bewiesen, dass wir ein zuverlässiger Partner sind, der an echtem Frieden interessiert ist, aber nicht bereit ist zu kapitulieren oder schmerzhafte Kompromisse einzugehen. Selenskyj hat gezeigt, dass die Ukraine nicht bereit ist, den Krieg mit Russland auf Kosten eines kurzfristigen Interesses zu beenden. Deswegen betonte Selenskyj gestern noch einmal, dass es keine Föderalisierung der Ukraine und keine Änderung der außenpolitischen Prioritäten wie die Schritte zur NATO- oder der EU-Mitgliedschaft geben wird.
Bermet Talant, Journalistin, KyivPost
Kein Zweifel, seit der Amtsübernahme von Wolodymyr Selenskyj ist Bewegung in die schwierigen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland gekommen: Es gab einen Gefangenenaustausch, Wiederaufbau der Brücke in Stanyzja Luhanska, Abzug der Streitkräfte an drei Orten, Rückkehr der Ukrainischen Marineschiffe, den ersten Normandie-Gipfel seit über drei Jahren und das Bekenntnis der Ukraine zur umstrittenen Steinmeier-Formel.
Beim Gipfel selbst gab es keinen Durchbruch, aber das hatte in Kyiv kaum jemand erwartet. Hier glaubt niemand daran, dass Putin wirklich bereit ist die Minsker-Abkommen umzusetzen. Jegliche Garantien und Versprechen hat er in der Vergangenheit stets gebrochen.
Trotzdem war der Gipfel wichtig für Selenskyjs Image sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Obwohl wir nicht genau wissen, was hinter den Türen passiert ist, hinterließ der Präsident bei vielen Beobachtern einen guten Eindruck bei seiner schwierigen Feuertaufe in den Friedensgesprächen mit dem weitaus erfahreneren Politiker Wladimir Putin.
Ich selbst habe verschiedene Reaktionen unter den Ukrainern erlebt: vom offenen Lob über „ein Unentschieden“ bis hin zu etwas weniger aufgeregtem „Ja, es gab keinen Verrat, und unsere schlimmsten Ängste haben sich (noch) nicht erfüllt, aber..“. Seine Kritiker und Gegner befürchteten vor dem Normandie-Gipfel, dass er ukrainische Interessen verletzen und den Donbas preisgeben würde. Nach dem Gipfel sprach Selenskyj an seine skeptischen Landsleute und betonte explizit, dass er weder einer Föderalisierung noch eine Aufgabe der ukrainischen Territorien zulassen würde.
Selenskyj scheint mir wirklich bereit zu sein, mit Putin zu verhandeln und dabei keine ukrainischen Interessen preiszugeben. Aber wird es ihm gelingen? Ich bleibe skeptisch. Schließlich liegt der Schlüssel zur Lösung des Krieges in Moskau. Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob Putin zu wirklichen Zugeständnissen bereit wäre.